Wer kennt es nicht, plötzlich geht gar nichts mehr? Du willst zum Klo? Ja gern, aber bitte nur mit Kind am Bein festgeklammert, auf dem Schoß, im Arm oder im besten Fall noch auf dem Rücken. Du willst wenigstens ein paar Löffel von dem eh nur noch lauwarmen Essen in den Mund schieben, aber dein Kind hängt an deinem Arm? Du willst dich mal endlich anziehen und den Tag so gegen 11:00 Uhr morgens einläuten, denkst eventuell sogar daran, heute noch vor die Tür zu gehen, aber dein Kind klebt an dir wie eine Klette?
Im ersten Babyjahr ist das Verständnis für das plötzliche Klammern noch total groß. Schließlich müssen die kleinen süßen Wonneproppen ja erst einmal ankommen in dieser Welt, die riesigen Entwicklungssprünge meistern und dann auch noch mobil werden sowie die ersten Schritte in die Selbstständigkeit machen. Doch dann darf es doch bitte gut sein. Mit steigendem Autonomiebedürfnis, all dem "alleine machen" und den vielen Gefühlsausbrüchen, wenn es dann doch nicht so läuft, da darf es doch wenigstens an anderen Fronten leichter werden.
Wird es auch, versprochen. Du wirst eines Tages wieder essen, duschen und dich anziehen dürfen. Nur womöglich nicht schon gleich morgen. Auch Kleinkinder, frisch gebackene und auch fortgeschrittene, brauchen hin und wieder eine engere Begleitung, als dir womöglich gerade lieb ist. Dabei ist es fast unerheblich, warum ihr in einer Klammerphase hängt, es nur die Mama sein soll. Auch Kleinkinder haben ihre Phasen, durchleben Entwicklungssprünge, zahnen noch, wachsen aus ihren Sachen, lernen auf Fensterbänke zu krabbeln und die obersten Regale auszuräumen. All das ist ziemlich cool, aus Kindersicht natürlich, und manchmal auch fürchterlich anstrengend, und zwar nicht nur für Eltern. Auch unseren Kleinen kann die Entdeckung der Welt Angst machen.
Deswegen kommen hier ein paar Notfalltipps für dich, wenn es wieder soweit ist und gerade mal gar nichts geht, weil dein Klammeraffe die Welt zum Stillstand bringt.
Die Sichtweise ist entscheidend:
- Dein Kind ist noch klein, auch Kleinkinder sind noch klein. Auch, wenn unsere Erwartungen oftmals viel größer sind und schneller wachsen als unsere Kinder und ihre Fähigkeiten – und vor allem ihre kognitive Reife.
- Die ersten Jahre sind unfassbar wichtig für die gesunde Entwicklung unserer Kinder. Sie profitieren sehr stark von unserer engen Begleitung. Wir investieren in ein starkes Wurzelgeflecht, damit sie eines vielleicht nicht allzu fernen Tages ihre Flügel ausbreiten können.
- Unsere Kinder werden nicht ewig bei uns sein. Sie werden eines Tages ausziehen, vorher in die Pubertät stürmen und noch viel früher ihren ersten Schultag erleben. Genießen wir die Zeit, die wir haben.
Verstehen fördert Verständnis:
- Ist gerade etwas Besonderes los? Kommen weitere Zähne? Wird gerade eine neue Fähigkeit oder Fertigkeit erlernt? Steht etwas Besonderes an? Ist etwas Ungewöhnliches, vom Alltag abweichendes, passiert? Urlaub, Kita, besonderer Besuch?
- Wie geht es dir eigentlich? Bist du zunehmend genervt, allgemein gestresst? Hast du gerade viel um die Ohren oder möchtest du jetzt endlich mal wieder was für dich machen, all das liegengebliebene aufarbeiten? Auch das spüren Kinder, meist deutlich schneller als wir selbst. Sind wir nicht mehr präsent, wackelt die Bindung. Werden wir unsicher oder unklar, verlieren wir die Führung. Das macht Angst und aktiviert unsere Kinder. Sie geben Gas, jedes auf seine Weise, und fordern wieder eine stabile, verlässliche Beziehung ein.
- Im Artgerecht-Projekt schauen wir positiv auf unsere kleinen und großen Mitmenschen: Jeder gibt jederzeit sein Bestes und macht das aktuell Bestmögliche, um seine Bedürfnisse zu kommunizieren und zu erfüllen. Wir als Eltern sind die Experten für unser Kind und tragen die Lösungen in uns. Klingt das nicht gut?
Präventiv und vorausschauend agieren:
- Hast du schon von den fünf Sprachen der Liebe gehört? Noch nicht? Dann kannst du darüber etwas beim Wunschkind ausführlich nachlesen. In Kürze: Jedes Kind braucht seine besondere Art der Zuwendung. Die einen wollen viel Körperkontakt, die anderen brauchen positive Rückmeldung oder ungeteilte Zuwendung. Auch kleine Geschenke (keine materiellen) oder Hilfestellungen können den Liebestank füllen. Das funktioniert präventiv, bevor der Tank alle ist. Und natürlich auch im Akutfall, wenn dein Kind sich festklammert und ganz deutlich deine Aufmerksamkeit einfordert.
- Das kann ganz unterschiedlich im Alltag aussehen: mal wieder für eine Zeit beim Anziehen helfen, nachts dann doch wieder auf Mama einschlafen. Beim Essen auf Mamas Schoß sitzen, Qualitytime mit einem Elternteil (ohne Geschwisterkind), viele kleine Gesten wie ein Lächeln oder kleine Berührungen können schon einen kleinen Zauber bewirken.
- Fülle statt Entzug - dieses Mantra stammt aus den Kloetersbriefen, einem Elternratgeber aus den 60er Jahren und ist aktueller denn je. Denn wenn dein Kind gerade mehr von allem braucht, kümmert es sich um seine innersten Bedürfnisse. Das mag anstrengend sein, ist aber auf lange Sicht der einfachere Weg. Schließlich heißt es nicht umsonst auf dem Artgerecht-Poster: Gestillte Bedürfnisse verschwinden, unerfüllte tauchen immer wieder auf. Und das gilt nicht nur für dein Kind, sondern auch für dich!
Annehmen und Loslassen
- Wenn alles nichts hilft, ist Loslassen und Annehmen der Weg der Wahl. Das ist eigentlich oftmals der Königsweg, denn was du ändern kannst, ändere. Was du nicht ändern kannst… du kennst den Spruch. Oder wie der Kölner sagt: "Et es wie et es. Et bliev nix wie et wor. Et hätt noch emmer joot jejange."
- Wie lässt sich der Alltag in dieser Situation anpassen? Was muss sein und was darf warten? Welche Termine sind wichtig und was stresst unnötig? Wo kannst du Zeitfenster für Muße und Langsamkeit finden? In welcher Umgebung klappt es besser? All das können Wegweiser sein, um die Zeit zu überbrücken, bis der Klammeraffe plötzlich wieder zum Kuschelhasen wird. Oder sich ein neues Tier in eure Kosenamen-Sammlung einreiht, z.B. der Frage-Fuchs, der Warum-Wal oder das Kann-ich-allein-Kaninchen.
- Mit einer guten Rückentrage oder einem Sling lässt sich der Alltag zwar nicht wie vorher meistern, aber vieles geht doch ein bisschen besser. Auch das kann ein Weg sein, die Situation anzunehmen und die eigenen Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen für den Moment zurückzustellen.
Der Klassiker: Selbstfürsorge
- Und wie immer gilt: Bei aller Bedürfnisorientierung sind deine Bedürfnisse ebenso wichtig. Auch und vor allem, wenn der Alltag ein wenig fordernder ist, als eh schon. Das ist der Teil, an dem du aktiv etwas ändern kannst. Die eigenen Bedürfnisse zu kennen und ihnen Raum zu geben, ist mitunter im bunten Alltagstrubel recht schwer, aber möglich. Das wird Thema im nächsten Artgerecht-Treffen sein.
Wenn ich dir hier ein paar neue Ideen an die Hand geben konnte, freu ich mich. Wenn du weitere Ideen für dich hast, freu ich mich noch mehr. Und wenn du die Kleinkindzeit trotz Klammerattacken künftig fast ein wenig genießen kannst, freu ich mich am meisten. Denn Hand aufs Herz: Solange die Kleinen so verdammt knuffig sind, sollten wir jeden Moment auskosten, bevor es irgendwann heißt: "Mama, lass die Küsserei sein! Ich wisch das jetzt weg" (Unsere "Große" mit knapp zwei Jahren). Was für ein Moment. Zum Glück gibt es diese Klammerphasen :-)