Da es immer noch gängig ist und ich einen Vorfall dieser Art miterleben musste, möchte ich den zweiten Teil der missglückten Trennung widmen. Es ist verständlich, dass sich einmal die Geduld dem Ende neigt, vor allem, wenn die Wochen ins Land ziehen und Eltern sich fragen, wie lange sie hier noch auf einem kleinen Stühlchen verweilen müssen. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, empfehle ich dringend ganz genau hinzuschauen: 

  • Was ist bisher gelaufen? 
  • Was hat schon gut funktioniert, was nicht? 
  • Wie ist die familiäre Situation aktuell? 
  • Was spiegelt mir mein Kind vielleicht? 
  • Wie klar bin ich selbst? 
  • Wurden die Bedürfnisse meines Kindes ausreichend beachtet und in den Prozess einbezogen?
Wir neigen allzu schnell dazu, die Verantwortung an unsere Kinder abzugeben, statt zu überlegen, woran es haken könnte. In der Regel liegt es nicht am Kind. Jetzt eine Trennung zu erzwingen, ist in meinen Augen falsch. Auf vielen Ebenen. Auch halte ich es für sehr bedenklich, eine Trennung zu erzwingen, bevor ausreichend Bindung aufgebaut wurde. Und Bindung benötigt nun mal Zeit. Hilfreiche Fragen dazu findest du im ersten Teil.

Da mir das Thema sehr am Herzen liegt, möchte ich hier zu einigem Nachdenken und Nachfühlen anregen. Viele haben es vielleicht selbst erlebt, erinnern sich noch an ihre Eingewöhnung oder die ersten Tage in der außerfamiliären Betreuung, die seinerzeit zudem ohne Eingewöhnung auskam. Zur Tür hineingeschoben, allein in einer fremden Situation, weinend. Die Nachwirkungen spüren Eltern bis teilweise heute, vor allem, wenn es um das Loslassen der eigenen Kinder geht. Auch wenn heute vieles anders ist, ist manches doch erschreckend gleichgeblieben. Kinder werden schnellstmöglich, je nach Eingewöhnungsmodell, Einstellung und Erfahrung der Fachkräfte zügig in die Trennung geschickt. Dass Kinder dabei weinen, ist eine normale Begleiterscheinung.
Auswirkungen missglückter Trennungen
Lass uns gemeinsam schauen: Was genau passiert da bei der Trennung? Was wünschen wir uns, was wollen wir erreichen? Und was sind vielleicht unerwünschte Nebenwirkungen? Im Grunde wünschen wir uns doch, dass das Kind den Moment der Trennung unbeschadet übersteht und erkennt, dass alles gar nicht so schlimm ist und nach den Tränen das fröhliche Spiel erfolgt. Das ist dann der Fall, wenn es sich um klassische Übergangsschwierigkeiten handelt, die Gefühle gut begleitet werden und das Kind bereits gut angebunden ist. Ist das nicht der Fall, kann folgendes passieren (insbesondere, wenn die Trennung mit körperlicher Übermacht, also Festhalten und/oder Wegtragen einhergeht):

  • Verlust des Vertrauens in die Einrichtung und die Fachkraft oder generalisieren der Fachkräfte
  • Beziehungsabbruch statt Beziehungsaufbau zur Fachkraft, die die Trennung vollzieht
  • Gefühle der Angst, Panik sowie Ohnmacht und Hilflosigkeit beim Kind, Verlust der Selbstwirksamkeit
  • Eingewöhnung kommt zum Erliegen/wird erschwert, das Kind klammert verstärkt
  • Hilflosigkeit, Planlosigkeit und Unsicherheit bei den Eltern, die sich auf das Kind negativ auswirken können – diese Gefühle können auch gänzlich unbewusst sein
  • Unbewusste Botschaft ans Kind („Du bist nicht wichtig“) steht im Raum
  • Auslösen von Schutzreflexen
  • Signalwirkung an gesamte Kindergruppe: Verhaltensregeln „Wie gehen wir miteinander um“ werden etabliert, der Stärkere gewinnt
  • Verletzung der Würde und Integrität des Kindes
  • Löst Stress aus, der eine positive Lernerfahrung unmöglich macht/erschwert
Ein Perspektivwechsel
Wechseln wir gerne die Perspektive, dann wird es bildlicher. Wie fühlst du dich, wenn dich jemand hochnimmt und festhält, der rein körperlich bereits fast doppelt so groß wie du und stark wie ein Riese ist? Was würdest du denken und fühlen, wenn du auf offener Straße beobachtest, wie ein Mensch einen anderen packt und davonträgt, der sich augenscheinlich wehrt, weint und überrumpelt fühlt? Das mag drastisch klingen, ist aber nichts anderes als eine „missglückte Trennung“ mit anderen Charakteren an einem anderen Ort. Es ist eine Gewalterfahrung.

Es hilft sehr, sich bewusst zu machen, was da genau passiert. Möchte ich, dass mein Kind auch zukünftig miterlebt, dass es in Ordnung ist, wenn große Menschen kleine weinende Menschen wegtragen, körperlich übermächtigen? Wie steht es um die anderen Kinder und die Gruppendynamik, welche Botschaft nehmen sie mit? Dürfen generell Größere und Stärkere alles, weil sie es können? Dieses Verhalten findet sich schnell auf der Gruppenebene und allgemein in der Gesellschaft wieder, wenn wir nicht achtsam im Umgang miteinander sind. 

Ich möchte mich für eine sanfte Eingewöhnung aussprechen, was Tränen nicht ausschließt. Schließlich dürfen wir einander vermissen, traurig über den Abschied sein und erleben gemeinsam eine gewaltige Veränderung. Nur gibt es dabei Grenzen. Eine davon ist, wenn Kindern etwas zugemutet wird, was wir einem Erwachsenen nicht zumuten würden, was wir selbst nicht erleben wollten.
Hilfe im Nachgang
Was nun tun, wenn du im Stress oder aus anderen Gründen einer solchen Trennung zugestimmt hast? Hilf deinem Kind das Geschehene zu verstehen, das Erlebnis zu integrieren, damit es nicht als Fremdkörper nachwirkt und nachhaltig Schaden anrichtet. Es ist in Ordnung, sich dafür entschuldigen, der verfrühten Trennung zugestimmt zu haben und im Nachgang zu schauen, wie ihr es zukünftig anders und besser machen könnt. Notfalls eben mit einer externen Beratung, sollten Ideen und Strategien fehlen.

Daniel Siegel und Tina Payne Bryson bieten in ihrem Buch „Achtsame Kommunikation mit Kindern“ verschiedene Möglichkeiten in den unterschiedlichen Altersstufen an. Diese unterstützten die Integration von Erlebnissen und ermöglichen so gleichzeitig, die verschiedenen Bereiche des Gehirns miteinander zu verbinden. Die wertvollsten rund um den Eingewöhnungsprozess und respektive den damit verbundenen Familienalltag, findest du kurz zusammengefasst hier:

  1. Verbinden und Umleiten: Eine gute Gelegenheit, um deinem Kind etwas über Emotionen beizubringen, etwa durch das Spiegeln und nonverbale Handlungen (empathischer Gesichtsausdruck, Halten oder Umarmen). So zeigen wir, dass wir die Wut oder Angst des Kindes verstehen. Das Schaffen einer emotionalen Verbindung ist die notwendige Voraussetzung, um im zweiten Schritt die Gefühle umzuleiten. “Wenn du traurig bist, dann kannst du dich an mich oder deinen Teddy kuscheln. Dann ist jemand bei dir. Wenn du wütend bist, kannst du in dein Kissen hauen. Denn hauen tut weh.” Gerade nach einer Trennung oder neuen Situationen können große Emotionen aufkommen, wo Kinder ihre engsten Bezugspersonen als Ko-Regulatoren brauchen.
  2. Benennen, um es zu zähmen: Geraten große Emotionen außer Kontrolle, können nicht spielerisch leicht umgeleitet werden, können wir eine z.B. Geschichte darüber erzählen, was wütend oder traurig macht, was wir beobachtet und erlebt haben. So kann das Gehirn die Erfahrung verstehen und die Situation erscheint kontrollierbarer. Die Gefühle bekommen einen Namen, werden greifbarer und werden anerkannt. Geschichten in Kombination mit Bildern sind dabei sehr hilfreich. In der Regel benötigt dein Kind hierbei noch deine Führung, um die Geschichte weiterzuerzählen: „Ich habe gesehen, dass du geweint hast, als ich gegangen bin.“ Je nach Alter und Verfassung des Kindes kann es selbst oder du die Geschichte fortführen.
  3. Begegnen statt erzürnen: Diese Strategie passt vielleicht auf den ersten Blick nicht so gut zur missglückten Trennung und doch können wir uns schneller in einem Teufelskreis wiederfinden, als es uns lieb ist. So sind wir vielleicht selbst gestresst durch die Situation und dann verhält sich unser Kind auch noch so, dass unser Stresserleben darüber hinaus gesteigert wird, weil mit den vielen großen Gefühlen nicht umgehen können. Hier kann es hilfreich sein, gemeinsam neue Wege zu finden, statt in Machtkämpfe abzutauchen. Wo können wir mit dieser Wut hin? Wie können wir der Angst begegnen, der Traurigkeit Raum geben? Welche Ideen hast du, welche dein Kind? Wie und wo könnt ihr einander begegnen?
  4. Nutze es oder verliere es: Hierbei geht es darum, so oft wie möglich Gelegenheiten zu finden, damit dein Kind das obere Gehirn nutzen kann, indem es selbst Entscheidungen trifft. Das kann im Nachgang einer heiklen Situation im Eingewöhnungsprozess heißen, dass du deinem Kind viel Raum für Selbstwirksamkeit schaffst und auch bei gemeinsam vorgelesenen Geschichten Fragen stellst, die das Gehirn fordern: Warum sieht das Kind so traurig aus? Was glaubst du, passiert als Nächstes?
  5. Bewegen, statt den Verstand zu verlieren: Alle Gefühle sind O. K. Das sollten wir zuallererst anerkennen. Auch Wut, Angst und Ohnmacht sind Gefühle, die wir akzeptieren dürfen. Im zweiten Schritt sollten wir so schnell wie möglich in Bewegung kommen, gemeinsam mit unserem Kind. Herumtollen, um die Wette rennen, raufen oder Huckepack tragen. So entsteht Balance zwischen dem oberen und unteren Gehirn und die Energie der großen Emotionen wird gut genutzt. Durch Bewegung kann die Stimmung verändert werden. Gerade nach einer schmerzhaften Trennungserfahrung oder einer trubeligen Eingewöhnungsstunde kann Bewegung Wunder bewirken.
  6. Erinnerungen durch die Fernbedienung des Geistes integrieren: Nach einem schmerzhaften Ereignis wie etwa eine missglückte Trennung kann dein Kind mit einer (virtuellen) Fernbedienung die Pause-Taste drücken und selbstständig vor- und zurück spulen, während es das Erlebte erzählt oder dir beim Erzählen einer dazu passenden Geschichte zuhört. So kann es sich eigenständig regulieren, wie viel es sich davon gerade anschauen möchte. Das Wiederholen des Erlebnisses ist wichtig für die Integration sowie das Verstehen des Erlebten und kann so zur Heilung führen. 
  7. Sich an das Erinnern erinnern: Indem wir bewusst Gelegenheiten im Alltag schaffen, wo wir uns gemeinsam erinnern oder etwas Erlebtes nachbesprechen, können Erinnerungen geschaffen bzw. diese verankert werden. Das gilt auch für Einzelheiten des Tages: Weißt du noch, wie ich dich in den Arm genommen habe? Erinnerst du dich noch an das Spiel, was dir dort großen Spaß gemacht hat? So werden Erinnerungen geschaffen und wir können gleichzeitig den Fokus auf das lenken, was uns wichtig ist. Wie dein Kind sich selbst helfen konnte, wie es einen großen Schritt gewagt hat, wie es Unterstützung erfahren hat und vieles mehr. Dadurch können die positiven Erfahrungen verstärkt und die Selbstwirksamkeit gesteigert werden.
  8. Den Freudefaktor in der Familie steigern: Gerade nach einem heftigen Moment, einem tiefen Schmerz, wenn die Emotionen abgeebbt sind, tut es gut, sich wieder geliebt und angenommen zu fühlen. Deshalb ist es generell wichtig, dass wir einfach jede Möglichkeit nutzen, in denen wir uns frei und verbunden miteinander fühlen können. So tanken wir auf oder nach. Das heißt speziell für dich, dass du den Impulsen deines Kindes gerne folgen darfst: Haut gemeinsam etwas um, spielt Ball zusammen, backt Kuchen, macht Musik, unternehmt eine Fahrradtour. Was auch immer euch Freude macht und zum Lachen bringt.
  9. Verbinden durch einen Konflikt: Jeder Konflikt ist eine Gelegenheit, die Beziehung zueinander zu stärken, die Perspektiven und das Innenleben anderer kennenzulernen. Auch wenn es sich im ersten Moment nicht so anfühlen mag. Gehen wir aufeinander zu und können unsere Gefühle ausdrücken sowie das Gegenüber in seinen Bedürfnissen sehen, dann werden wir gute Lösungen finden. Das trifft auch bei missglückten Trennungen zu. Manchmal benötigen wir genau die Erfahrung, um für die Zukunft bessere Strategien zu entwickeln. Die dabei erlebten Gefühle auf beiden Seiten, der Perspektivwechsel, die gefundenen Problemlösungen stärken dich und dein Kind.
Dieses Vorgehen gilt auch für andere gewaltvolle Handlungen, die (vielleicht auch zum Schutz des Kindes) aus dem Affekt passieren. Wir dürfen uns jederzeit bei unseren Kindern entschuldigen, öffentlich und auch im privaten Raum. Das wäre in meinen Augen auch von der institutionellen Seite wünschenswert. Denn so sind wir unseren Kindern ein Vorbild und leben gleichwertige Beziehungen. So geben wir ihnen die Rückmeldung, dass sie sowie ihre Wahrnehmungen und Gefühle richtig sind. Eine prägende Botschaft für das ganze Leben.

Im dritten Teil möchte ich noch auf die Momente eingehen, in denen du als Elternteil mit Situationen konfrontiert wirst, die nicht deinem Wertesystem entsprechen.