Wenn Eltern ihre Kinder die ersten Male „abgeben“, kostet das auf allen Seiten Mut. Für die einen mehr, für die anderen weniger. Woran liegt es, dass für manche die Eingewöhnung so harte Arbeit ist und sie einigen entspannt in den Schoß zu fallen scheint? Dazu teilt Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Julia Tiedge hier ein paar ihrer Gedanken dazu.

Die Geburt
Die erste Trennung unseres Lebens ist die Geburt. Die Erfahrungen, die wir bei der Geburt machen, sind sehr intensiv und speichern sich in uns ab. Das gilt für die Eltern (die ja selbst die eigene Geburt auch noch als Erinnerung gespeichert haben – diese und andere vergleichbar intensive Erlebnisse können durch das Geburtserlebnis reaktiviert werden) und für das Kind, das nun zum ersten Mal eine Trennung erlebt. Wenn dieses Ereignis im Großen und Ganzen positiv durchlebt wird, ist das erste Modell des Getrenntwerdens nicht besonders mit Angst behaftet. Ist die Geburt stressig, dann kann das Getrenntwerden als gefährlich oder bedrohlich abgespeichert werden. Vor allem, wenn dies bei allen Beteiligten zutrifft, z.B. bei einer traumatisch erlebten Geburt, sind die Voraussetzungen für entspanntes Loslassen und Sich-entfernen erschwert.

Trennung üben
Das Sich-Trennen, Loslassen und Einander-Wiederfinden kann man üben. Von null auf hundert ist eine Überforderung für alle Seiten. Die Trennung von der Hauptbezugsperson können diese und das Kind üben, in dem das Kind mit der anderen Bezugsperson alleine Zeit verbringt. Wenn das gut klappt, können andere vertraute Personen das Kind betreuen. So erweitert sich der Kreis des Vertrauens. Daher ist eine „Fremdbetreuung“ dem Wortsinn nach gar nicht gut: Zum Loslassen muss ein Kind spüren, dass es sicher ist bei einer bekannten Person. Und gleiches gilt für die Eltern: Erst, wenn es eine Vertrauensperson ist, die das Kind übernimmt, wenn wir einander kennen und vertrauen, können wir unser Kind guten Gewissens in andere Hände geben und wissen, dass es dort gut aufgehoben ist.

Geeignete Zeitpunkte
Es gibt eher günstige und eher ungünstige Zeitpunkte für die Eingewöhnung. Ein Kind kurz vor dem ersten Geburtstag einzugewöhnen, wie es aktuell häufig Praxis ist, ist gar nicht so sinnvoll – auch wenn es häufig vermeintlich „einfacher“ verläuft als eine spätere Eingewöhnung (siehe mein P.S.). Denn: Je nachdem, wo das Kind in seiner kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung steht, kann es eine Trennung besser oder schlechter „wegstecken“. Wenn das Kind gerade „fremdelt“ („Achtmonatsangst“ z.B.) oder die Familie eine Zeit der Umstellung durchmacht, z.B. unmittelbar nach einem Umzug, einer Trennung oder weil ein Geschwisterkind sehr bald geboren wird oder gerade geboren wurde – dann kann es dadurch sehr verunsichert sein.
Ein guter Zeitpunkt ist in der Regel der, wenn das Kind die Eltern als positive Bezugspersonen verinnerlicht hat (ab ca. 18 Monaten); etwas laufen und sprechen kann und anfängt, sich für andere Kinder zu interessieren. Meist ist das der Fall zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag. Das Interesse am Spiel mit anderen Kindern reizt dann so, dass der Kindergarten oder die Tagespflegestelle „lockt“. Das macht das Loslassen leichter.
Kinder, die deutlich älter sind als drei Jahre, haben zu Hause ihren Rhythmus mit den Eltern gefunden. Häufig betreut von einem Elternteil, ist die Bindung dann eventuell sehr eng und die Unsicherheit im Umgang mit anderen Kindern kann, je nachdem, wie gewöhnt das Kind an Kindergruppen ist, größer werden. Ist das Kind dann auch noch sehr fixiert auf den einen Elternteil und bleibt nicht bei der anderen Bezugsperson und/oder ein Geschwisterchen kündigt sich an, dann kann es sich schon mal abgeschoben und ausgeschlossen fühlen, wenn es eingewöhnt werden soll.
Es ist also sehr individuell, wie Kinder auf eine Eingewöhnung reagieren – und multifaktoriell, ob sie gelingt oder nicht.

Schwierige Trennungen
Wenn Trennungen schwierig sind, hat dies meist auf beiden Seiten Gründe – manchmal sogar über Generationen hinweg. Die Geburt war entspannt und trotzdem habt ihr mit Trennungsängsten zu kämpfen? Vielleicht schaut ihr Eltern euch an, wie ihr Trennungen in euren Leben erlebt habt und wie eure Herkunftsfamilien mit diesem Thema konfrontiert wurden. Manchmal spiegelt das Kind Erlebtes aus früheren Generationen wider. Wir nennen das Transgenerationalität und/oder Epigenetik.

Stress erschwert Loslassen
Stress spielt eine große Rolle – denn Stress löst das Bindungssystem aus und erschwert somit das Loslassen, da er in uns ein Gefühl der Unsicherheit, der Bedrohung, verursacht. Wenn Eltern entspannt und im Vertrauen sind, sind Kinder das auch. Unser Körper spricht dabei lauter als unser Bewusstes – selbst wenn wir Eltern glauben, entspannt zu sein und allem positiv entgegenzustehen, kann unser Körper Bände sprechen – ganz anderer Art! Und unsere Kinder spüren dann unsere
Anspannung.

PS: Wenn die Eingewöhnung so gar kein Problem war bzw. eigentlich kein Eingewöhnungsprozess stattfand und dies für Eltern und Kind gar nicht von Bedeutung war, ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Es kann eher ein Hinweis darauf sein, dass eine tiefere Bindungsstörung vorliegt, in der z.B. Kontaktpersonen austauschbar sind. Wenn ihr mehr über Bindung erfahren möchtet, wird euch vielleicht freuen, dass wir zu diesem Thema bereits für euch arbeiten.

Wer mehr zu diesem Thema wissen oder sein persönliches Anliegen besprechen möchte, kann gerne eine Beratungsstunde bei Julia buchen. Wer ihr lieber zuhören möchte, findet mittlerweile eine ganze Menge Podcast-Folgen hier.